Was lässt sich denn nun eigentlich von den vielen leichthin gegebenen Versprechungen zum Klimaschutz verwirklichen, die im vergangenen Bundestags-Wahlkampf eine so große Rolle gespielt haben? Was sagen denn die Ingenieurinnen und Ingenieure dazu, die den schwierigen Weg in Richtung Klimaneutralität zu gehen haben? – Einiges davon wurde kürzlich beim ersten Vortrag des „Kolloquiums Gebäude Energie Umwelt“ der Hochschule Esslingen im Wintersemester 2021/2022 deutlich. Unter dem Titel „Der Beitrag von grünem Wasserstoff in Quartieren zur Erreichung der Klimaneutralität – Projektbeispiel Neue Weststadt Esslingen“ berichtete M.Sc. Tobias Nusser vom Stuttgarter Steinbeis-Innovationszentrum energieplus über ein interessantes technisches Projekt .
Deutsches Entwicklungsziel vorgestellt
Der Referent stellte zu Beginn das deutsche Entwicklungsziel zur Verminderung der Kohlendioxid-Emissionen im Klimaschutzgesetz des Jahres 2020 vor: Betrug der CO2-Ausstoß im Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 noch 1250 Millionen Tonnen (Mio t), so gingen diese im Jahr 2020 auf 740 Mio t zurück; für das Jahr 2030 sollen sie auf 438 Mio t vermindert und im Jahr 2045 auf Null reduziert sein. Dieses Ziel für 2045 soll ohne die weitere Nutzung der Kernenergie, ohne heimische Erdgasförderung mithilfe neuer Techniken, bei zugleich zurückgehenden Erdgaseinfuhren, mit lediglich begrenztem Einsatz von energetischer Biomasse und ohne die Nutzung von Braun- und Steinkohle für die Stromerzeugung erreicht werden, obwohl es inzwischen wirksame Techniken zur CO2-Abscheidung und -speicherung bei der Kohlestromerzeugung gibt. Kritiker sehen hierbei eine „Engführung“ der Energiewende, die im Ausland dazu führen werde, dass der deutsche Weg beim Klimaschutz ein Sonderweg ohne wesentliche Multiplikationswirkung bleibe.
Der Vortragende benannte aus der Metastudie zur Energiewende bis 2050 die dort untersuchten „kosteneffizienten und klimagerechten Transformationsstrategien“: So müsse die Erzeugung von volatilem Strom aus Wind und Sonne gegenüber heute auf das Vier- bis Fünffache ausgeweitet werden: Deren installierte Leistung solle von heute rund 110 Milliarden (Mrd) Kilowatt auf über 400 Mrd Kilowatt (in anderen Studien auf 450 bis 550 Mrd Kilowatt) gesteigert werden. Doch solle diese volatile Stromerzeugung nicht ausschließlich im Stromsektor ausgeglichen werden, da dies nicht kosteneffizient sei. Man sehe deshalb eine Sektorenkopplung zwischen den Sektoren Strom und Wärme durch Power-to-Heat (PtH) und Power-to-Gas (PtG) als Schlüsselelement vor.
Verwertung von Wasserstoff vorrangig in den Sektoren Verkehr und Industrie
Dabei betrage der Bedarf an Wasserstoff (H2) in 2050 12 Mio t; 50 Prozent davon müsse in Deutschland selbst erzeugt werden. Hierzu sei bis 2050 eine Elektrolysekapazität von 60 bis 80 Mrd Kilowattel erforderlich. Die Verwertung von Wasserstoff solle vorrangig in den Sektoren Verkehr und Industrie erfolgen und nicht bei der Wärmebereitstellung in Gebäuden: Grüner Wasserstoff sei prioritär für die Defossilisierung insbesondere bei der Herstellung von Zement, Stahl und chemischen Erzeugnissen sowie im Schwerlastverkehr erforderlich.
Für Wind- und Photovoltaik-(PV)-Strom seien bis zu 10 Prozent der Landwirtschaftsfläche vorzusehen (für Windkraftwerke bei 50 Prozent landgestützter und 50 Prozent seegestützter Leistung: etwa 7 Prozent; für PV-Anlagen trotz intensiver Nutzung von Dachflächen weitere rund 1 bis 2 Prozent).
Heute erfolge über 90 Prozent der Wasserstoffherstellung aus fossilen Energieträgern: „Graues“ H2 stamme aus Erdgas über das Verfahren der Dampfreformierung; soweit das dabei frei werdende CO2 unterirdisch gespeichert werde, spreche man von „blauem“ H2. Dagegen solle künftig „grüner“ Wasserstoff mithilfe von Wind- und PV-Strom über Verfahren zur Wasserelektrolyse gewonnen werden.
Wasserstoff künftig auch in Städten erzeugen
Aus Sicht von M.Sc. Nusser solle Wasserstoff künftig auch in Städten erzeugt werden, um dabei die Anlagentechniken aus Gründen der Energieeffizienz in örtliche leitungsgebundene Systeme für die Energiebereitstellung und den Energiebedarf einbeziehen zu können: Damit ließen sich zeitweilige Überschüsse von lokalem PV-Strom nutzen und folglich auch erneuerbarer Strom in Form von Wasserstoff speichern, der dann zeitversetzt bedarfsgerecht verbraucht werden könne.
Da heutige Elektrolyseanlagen einen energetischen Gesamtwirkungsgrad von rund 55 bis 60 Prozent (künftig möglicherweise etwa 80 bis 85 Prozent) aufwiesen, stehe für die Wärmeversorgung von Stadtquartieren ein nennenswertes Abwärmepotenzial zur Verfügung; 2050 könnten dies deutschlandweit aus einer Elektrolyseleistung von 60 bis 80 Mrd Kilowatt etwa 120 Mrd Kilowattstunden Wärme sein. Dies entspreche dem heutigen Fernwärmeaufkommen.
Im Folgenden ging der Vortragende auf das Konzept des Klimaquartiers Neue Weststadt Esslingen ein: Dabei stellte er das - seit 2017 bereits teilweise verwirklichte - städtebauliche Konzept ausführlich vor: Auf einer Fläche von 12 Hektar seien bis zum Jahr 2024 im Endausbau 85.000 m2 Bruttogeschoßfläche vorgesehen, davon 80 Prozent zum Wohnen in mehr als 550 Wohneinheiten. Dabei sei übrigens auch ein Areal für neue Gebäude der Hochschule Esslingen vorgesehen.
Bei diesem Vorhaben mit Modellcharakter wirkten 13 interdisziplinäre Partner zusammen: neben der Stadt Esslingen auch Investoren, Immobilienentwickler, Energieversorgungsunternehmen und wissenschaftliche Institutionen. Die förderrelevanten Kosten beliefen sich auf fast 23 Mio € (über 13 Mio € Fördermittel und knapp 10 Mio € Eigenmittel).
Das geplante Energiekonzept sehe als Kern eine unterirdische Energiezentrale mit Elektrolyseanlage, H2- und Biomethan-KWK-Anlage, H2-Kesseln, H2-Speicher und Wärmepumpe sowie eine ambitionierte Wasserstoffvermarktung vor.
Vorab-Simulation notwendig
Die Komplexität des energiebezogenen Vorhabens erfordere eine Vorab-Simulation über das digitale Werkzeug „Quartier Simulation QuaSi“: Mittels eines objektorientierten Energiemodells würden in großer zeitlicher und örtlicher Auflösung unter Einbeziehung von Strom-, Gas-, Wärme- und Kältenetzen Energiebilanzen und Klimabilanzen erstellt. Vermöge einer detaillierten Vernetzung über so genannte „Smart Grids“ und mithilfe eines Energiemanagements solle über Basis-Regelkonzepte und übergeordnete Regelstrukturen der Komplexität der Aufgabenstellung Rechnung getragen werden. Dabei solle der Wärmebedarf zu 50 Prozent aus Elektrolyse-Abwärme gedeckt werden.
Freilich reichten die PV-Stromüberschüsse aus dem Quartier nicht aus, so dass weiterer Strom „energiewendedienlich“ bezogen werden müsse. Dieser sei über den Handel an der Strombörse zu haben, wobei künftig hoffentlich niedrige Strompreise mit einem hohen Anteil erneuerbarer Stromerzeugung korrelieren würden.
M.Sc. Nusser benannte weitere Zielwerte der Simulationsrechnungen: Man erwarte eine Jahresproduktion an grünem Wasserstoff von etwa 85 t/a bei 4.500 jährlichen Elektrolyseur-Vollbenutzungsstunden. Diese Menge entspricht dem Jahresstrombedarf von 726 Drei-Personen-Haushalten oder der Fahrleistung von 625 Personenkraftfahrzeugen. Die nutzbare Abwärme schätze man auf 600.00 Kilowattstunden je Jahr ein; dies reiche für rund die Hälfte des Wärmebedarfs der angeschlossenen Gebäude.
Klimaschutz über Quartiersgrenzen hinaus
Kurzfristig denke man auch an eine Defossilisierung des Gasnetzes der Stadt als „Back up“ eines wirtschaftlichen Betreibermodells. Mittelfristig wolle man auch Industrie und Mobilität im Umfeld sowie Brennstoffzellenteststände einbeziehen. Langfristig sei an eine H2-Gasleitung gedacht, mit der zu einer Wasserstoffwirtschaft in der Region beigetragen werden solle. Grüner Wasserstoff sei eine gute Voraussetzung für die bilanzielle Klimaneutralität: So solle u. a. das Projektziel „Nahezu klimaneutral“ für die Esslinger Neue Weststadt erreicht werden. Grüner Wasserstoff im Quartier sei auch ein Beitrag für die Klimaneutralität über die Quartiersgrenzen hinaus.